Essen
Am 1. Mai stand ich nicht auf einem Dancefloor, sondern in einer Schlange für salziges Pistazieneis. Schon über ein Jahr lang gibt es die direkt gegenüber meiner Berliner Wohnung gelegene Duo-Filiale, und doch brauchte es einen Familienbesuch, bis ich dort war. Unklar, warum am eiswettergesegneten Feiertag lediglich eine Mitarbeiterin eine zwanzig-Meter-Schlange abfertigt – mein Bruder spricht von künstlicher Verknappung –, noch dazu, wenn Frechdachse wie ich nach vier Probierlöffeln fragen, bevor sie sich entscheiden. So oder so hat sich das Warten gelohnt: von den fünf Pistaziensorten ist salzig die beste Wahl, auch Cannolo kann was. Nächstes Mal hole ich mir die in der frisch gebackenen Butterwaffel verkauften Sorten Carrot Cake und Peanut Butter & Jam bei Jones, die hat nämlich eine Filiale in der Wiener Straße eröffnet.
Im Eishimmel war ich auch im Coda, dessen Chefduo René Frank und Julia Leitner ich für die Berliner Zeitung porträtiere. Frank himself setzte sich mit Lorraine Haist und mir aus Gründen der Qualitätskontrolle zu Tisch. Für mich nach wie vor eines der besten Restaurants der Stadt, nicht nur wegen des Signature-Kaviar-Popsicles. Lediglich bei der alkoholfreien Begleitung wünsche ich mir mehr Fantasie und Selbstgemachtes im Stil der Kaffeekirscheninfusion oder des hervorragenden Apfelsafts mit Anis, Tomatensirup und Lapsang. Wird leider dem Chef zufolge kaum bestellt.
Noch ein süßer Tipp: Obwohl die Marc Patisserie eigentlich für ihr Baiser bekannt ist – hasse ich – gefiel mir alles andere jemals Probierte sehr, dieses Mal eine Art dezent gesüßter Windbeutel mit Karamelltopping.
Und im Wiener Neowirtshaus Brösl lernte ich die spannende Kombination Seeforelle und Rhabarber kennen.
Kochen
Weißer Spargel mit Kaffee und Kokos ist meine Geschmackskombination des Frühjahrs, entdeckt im Singapurer Zén. Dazu den Spargel einsalzen, schälen und mit Salz, Zucker und Butter in möglichst wenig Wasser garen. Währenddessen schwarzen Knoblauch in Kokosöl rösten, mit Kokosmilch aufgießen, dann Espresso, Kaffirlimettenblatt, pinken Pfeffer, frisch gemahlenen Kardamom, Himbeeressig und Chili einrühren. Ich habe dazu Hirse gegessen.
Trachanas hätte auch gut gepasst. Diese aus Weizenmehl und fermentiertem Schafs- und Ziegenjoghurt bestehenden Kügelchen werden in Griechenland meist in suppiger Form gegessen, ich bereite sie wie Pasta zu. Kennen- und lieben gelernt in Wien bei Mama Konstantina.
Früher habe ich rohen Bärlauch geliebt, inzwischen ist er mir zu knofelig. Lieber setze ich auf Frittata oder Knödel, wobei die Saison gefühlt schon wieder vorbei ist. Glücklicherweise stieß ich im Vorratsschrank auf Jutta Niefergalls Bärlauchpesto, verfeinert mit Haselnüssen und genau richtig intensiv-frühlingshaft im Geschmack.
Lesen
Mal angenommen, ich lebte allein in den Bergen: Welche Art Körperarbeit betriebe ich dann? Würde ich mich schminken? Nein. Mir die Achseln epilieren? Ja. Sport machen? Auf jeden Fall. Meine Ernährung kontrollieren? Weiß nicht. Schönheit und der damit verbundene Kult ist jedenfalls ein Thema, das nie langweilig wird. Selten widmet sich dem jemand so klug, pointiert und humorvoll wie meine ehemalige Zeit-Online-Chefin Rabea Weihser. “Wie wir so schön wurden. Eine Biografie des Gesichts” beleuchtet den Beauty-Irrsinn vergangener Epochen von Stirnhaareausreißen bis Schwindsüchtigsein, immer im Hinblick darauf, dass es heute möglicherweise bizarrer zugeht als je zuvor:
“Junge Menschen wollen aussehen wie Influencer, die aussehen wollen wie Hollywood-Millionärinnen, die aussehen wollen wie Pornodarstellerinnen. (…) Die Kundschaft lässt sich jetzt die von Gewebe verkapselten Silikonwürste aus den Lippen schneiden und unliebsame Unterspritzungen mit Lösungsmitteln ausschwemmen. Die Schlauchbootjahre sind vorüber – zumindest bei den internationalen Stilikonen. (…) Keine Schnutenbildung mehr, kein unerwünschtes Gelee zwischen Lippe und Nase, keine Wulst im Philtrum, denn das verrät die amateurhafte Behandlung. Auch die Prinzessinnen der Düsseldorfer Königsallee wollen jetzt ihren Fillermigrationshintergrund überwinden.”
Das immerhin kann ich mit Bestimmtheit sagen: Filler kämen mir weder auf dem Berg noch im Tal in die Lippe.
Am Strand von Langkawi las ich die letzten Seiten von “Es muss schreien, es muss brennen”, ein Geschenk meiner Freundin Sarah Satt. Nicht jedem von Leslie Jamisons Essays konnte ich folgen, gewohnt brillant hingegen war jener über Second Life (erinnert sich noch jemand an dieses Prä-Metaverse?), das Museum der zerbrochenen Beziehungen, ihre Stiefmutterschaft (ein Trendthema, auch im Zeit Magazin) und Erfahrungen als biologische Mutter. Schönster letzter Satz: “Da warst du: eine Ankunft, ein Schrei, der Anfang einer neuen Welt.”
Für die Welt habe auch ich über Mutterschaft nachgedacht:
“Ich weiß nicht mehr, wann das anfing: dass ich mich zu jedem Kind und seiner Mutter in Relation setze. Früher einmal waren das einfach Mütter mit Kindern. Heute sind es Frauen, die eine Entscheidung getroffen haben. (…) Woher kommt mein Impuls, mich zu jeder vor mir an der Bioladenkasse über Eis diskutierenden Mutter zu positionieren, warum bringt jeder gewölbte Bauch einen Gedankenprozess ins Rollen? Als Feministin bin ich naturgemäß auf der Seite der Mütter. Nur wo ich selbst stehe, ist noch nicht auserzählt.”
Im Friedrichshainer Fine Bagels, über das ich für die Berliner Zeitung schrieb, mochte ich vor allem den Cheesecake. Entsprechend viel credibility bekommt das mit “Neues Backen” betitelte Buch der Betreiberin Laurel Kratochvila. Wunderschön fotografiert geht es darin einmal um die Welt, von römischen Maritozzi über tschechische Mohn-Quark-Kolatschen bis hin zum orientalischen Halva-Flan. Will ich alles backen, jetzt!
Über Yelda Yilmaz stieß ich im Zusammenhang meiner Zeit-Online-Sonntagsessen-Kolumne. In “Sofra” widmet sich die Hamburgerin der Küche ihrer Vorfahren in pflanzlicher Form, fern von Dogmatismus, weil sie sagt: “Viele türkischen Gerichte sind von Haus aus vegan.” Volle Punktzahl für das Cover. Bei den Rezepten blieb ich wie so oft vor allem am süßen Teil hängen. Schoko-Tahini-Karamell-Tarte, Eiscreme aus Mais und veganer Kondensmilch mit Sauerkirschkompott und Joghurtkuchen mit Kokostopping werden hoffentlich bald ausprobiert.
Sehen
So viel harte Arbeit, so viel Dreck, dachte ich mir bei “Des Teufels Bad”, vor dem mich meine DVDthek-Mitarbeiterin des Vertrauens gewarnt hatte, weil: krass! Offenbar hielt man es im 17. Jahrhundert für eine gute Idee, die Haut mit Bindfäden zu durchstechen, bis sie eiterte, um Gift auszuspülen. Bei solchen Informationen wundere ich mich stets, dass es die Menschheit noch gibt. Und unsereins regt sich über ein entzündetes Piercing auf! Der Film ist jedenfalls in seiner dorfösterreichischen Düsternis wirklich krass, aber sehenswert, allein wegen der Hauptdarstellerin Anja Plaschg aka Soap & Skin.
Noch ein berührendes Frauenschicksal begegnete mir in “Tendaberry”. Ein Jahr lang begleitet die Kamera eine junge New Yorkerin, deren Verliebt-und Arbeitslosigkeit, Schwangerschaft, Fehlgeburt und die Liebe zu Coney Island. All das in feinfühlig komponierten Bildern, die manchmal haarscharf am Kitsch vorbeischrammen, aber eben nur haarscharf.
“Lieber habe ich Schmerzen als keine Lust” bekennt eine der Frauen in Claire Simons berührender Krankenhausdokumentation, eine andere begründet ihre Dekade Brusttumorschmerzen damit, dass sie dachte, diese seien normal. Mit vielen der in “Notre corps” verhandelten Themen habe auch ich mich in meinem letzten Buch auseinandergesetzt, von Endometriose über Abtreibung bis hin zu weiblicher Genitalverstümmelung.
Shoppen
Muss jetzt endlich gekauft werden: die Eureka Mignon Libra Kaffeemühle mit eingebauter Waage, damit das mit-der-Küchenwaage-Hantieren endlich ein Ende hat. Wobei mein Lebensproblem dadurch nicht gelöst ist, wie ich nämlich möglichst elegant mit zwei verschiedenen Bohnen verfahre – morgens Filter, nachmittags Espresso –, ohne Sauerei und Kuddelmuddel. Die von einem Barista empfohlene Anschaffung einer zweiten (!) Mühle kommt leider nicht infrage.
Idealerweise befinden sich in der Mühle die Filterkaffeebohnen Kenya Kiamugumo von Friedhats, leider nach Wien nur mit horrendem Porto bestellbar. Fündig wurde ich zuletzt bei The Good Coffee Society.
Liebe ich auch:
Hasse ich:
QR-Codes statt Speisekarten. So unsinnlich, so technologiegeil, und schließlich soll es auch Gäste ohne Smartphone geben. An ein paar ausgedruckten Seiten wird die Welt nicht zugrunde gehen.
Wen Cheng habe ich immer guten Gewissens empfohlen. Nach wie vor sind deren handgezogene Sichuannudeln perfekt, die Toppings allerdings schwäbisch portioniert. Drei, vier Löffel von den herrlich schmelzigen Auberginen und jefühlt nüscht vom veganen Hack. Auch bei Pizzatoppings wird im Simon-Dach-Kiez gespart. Gastrokrise hin oder her, ich habe keine Lust, mich an Sättigungsbeilagen satt zu essen.
Faszination dünne Frauen: okay. Aber so dünn wie Angelina Jolie in ihrer Rolle als Maria Callas? Schon klar, es geht um ihre letzten Tage, der Alkohol, die Tabletten etc. pp. Zum ersten Mal habe ich auch bei mir einen Überdruss am Bild der erotisch-leidenden Frau festgestellt, also das, was Leslie Jamison in “Große Universaltheorie über den weiblichen Schmerz“ beschreibt:
“Ich habe genug vom weiblichen Schmerz, und ich habe genug von Leuten, die genug davon haben. Ich weiß, die leidende Frau ist ein Klischee, ich weiß aber auch, dass noch immer jede Menge Frauen leiden. Ich mag die Hypothese nicht, dass weibliche Wunden von gestern sind. Ich bin verletzt davon.”
Ich auch. Ein Thema, das mich wohl mein Leben lang beschäftigen wird.
Jetzt ist aber hoffentlich erst mal endlich Sommer.