Midtsommer oder Sanktansaften, der Abend des Sankt Hans, heißt die längste Nacht des Jahres in Norwegen, ein Land, das ich trotz familiärer Verbindung kaum kenne. Mitte Juni erkundete ich für Brigitte zusammen mit dem Fotografen Marc Beckmann dessen südlichsten Zipfel Søderlandet. Die Hauptstadt Kristiansand war unaufgeregt, mit der schwimmenden Blaud-Sauna und den pastries der Odd Bakery als Highlight. Völlig gebannt war ich außerdem von der Licht-Sound-Installation des Sigur-Rós-Sängers Jónsi und überhaupt der Architektur des in einem ehemaligen Getreidespeicher untergebrachten Kunstsilo.

Mit dem Mietwagen ging es anschließend ins achtzig Kilometer entfernte Lindesnes. Spektakulär ragt dort das Restaurant Under ins Meer hinein beziehungsweise fünf Meter hinunter. Bei solcher Art Event-Architektur bin ich immer erst mal skeptisch, das Menü gefiel mir aber, genau wie im Dubaier Osiano, ziemlich gut. Traumkombination Bärlauchemulsion und Seehasen-Rogen! Unser Sommelier sprach ein antiquiertes k&k-Österreichisch und schenkte eine leider viel zu süß-saftige alkoholfreie Begleitung aus. Klasse, dass der Großvater des Restaurantbesitzers einen Apfelgarten hat, trotzdem brauche ich dessen Erzeugnisse nicht in jedem dritten Glas.

Als noch größeres Problem empfand ich die Übernachtungssituation. Nur wenige Meter sind es vom Restaurant zum Havhotell, das mit dem Charme eines Tagungshotels und ohne die auf der Website versprochene Sauna auskommt. Das Under fällt eindeutig in die Kategorie destination dining, ein Ort, an den Foodies nur des Essens wegen reisen, und dazu gehört nun mal eine ansprechende Unterkunft, und sei es in Form einer Handvoll Gästezimmer, wie im Fall des Taubenkobel (über den ich für die Zeit berichtete) oder Vyn oder Reale.
Obgleich ich schon mehrmals in Norwegen war, kannte ich dessen Hauptstadt bislang nicht. Großer Fehler! Oslo begeisterte mich in jeder Hinsicht. Zugegeben hatte ich das wohl beste Wochenende des Jahres erwischt, Midtsommer bei stabiler Wetterlage, dazu Konzerte, Parkpicknicks, Terrassenpartys. Futuristisch ist das Viertel rund um Oper und Munch Museum, entschleunigt das teilweise autofreie Zentrum. Es gibt Stadtstrände und Hafensaunas und, im Gegensatz zu Berlin, ist die bargeldlose Zukunft bereits Realität. Gewohnt habe ich zwei Nächte im Sommerro, einem im weltweit bewährten Mid-century-Stil gehaltenen Haus, an dem mich nur störte, dass Sauna und Rooftoppool nicht im Zimmerpreis inbegriffen sind. Die letzte Nacht verbrachte ich im nochmal stilvolleren Amerikalinjen. Ich liebe dessen rosa-rotes Design, den Livejazz zum Nachmittagscappuccino, die ab sechs Uhr morgens (!) geöffnete, nicht extra zu bezahlende Sauna.
Anlass meines Osloaufenthalts war die sehr lohnenswerte New-Nordic-Cuisine-Ausstellung im Nasjonalmuseet, über die ich für die Welt am Sonntag berichte. Sie umfasst Menükarten, Rentiervideos und Restaurantbestuhlung ebenso wie Küchengeräte (Thermomix!) und beweist einmal mehr, wie prägend diese Strömung für die internationale Gastronomie war und ist. Der Preis fürs schönste Serviceoutfit geht dank schwarzem Rockensemble und Silberschühchen ans Koks.
In Sachen Kulinarik verließ ich mich auf Anders Husas Empfehlungen, ein norwegischer Influencer, den ich vor einigen Jahren auf einem Bangkoktrip kennenlernte. Episch lang und ebenso gut war das zwanzig-Gänge-Menü im Savage, dessen Koch Andrea Selvaggini früher im Anfang des Jahres von mir besuchten Quintonil zugange war. Episch lang heißt: Nach vier Stunden kam der Brotgang, nach fünfeinhalb das Trüffel-Eis-Petit-four. Über einen so langen Zeitraum die Spannung aufrecht zu erhalten zeugt von Können. Jeder Teller war überraschend, das meiste davon finger licking good, so wie das Pre-Dessert, weiße eingeweckte Karotten mit Räucheraalemulsion, Mandelpraline, Wilderdbeeren, altem Balsamico und salziger (!) Tonkabohnen-Eiscreme. Herausragend auch die ganz und gar auf der Salz-Umami-Seite angesiedelte alkoholfreie Begleitung. So lässt Sommelier Brian Devaux salzigen, mit Jalapeño vermengten Rhabarber über Nacht in Risottoreis ziehen oder verfeinert eine Steinpilzessenz mit schwarzem Knoblauch und Sojasauce. Vermutlich ist manch einer davon überfordert und einiges schoss übers Ziel hinaus, dennoch eines der gelungensten flüssigen Erlebnisse seit Langem.
Das Savage hat einen Stern, das Kontrast zwei. Abgesehen vom aus Hering, Dill, Kartoffeln, Bier- und Aquavit-Espuma (für mich alkoholfrei) genial zusammengeschraubten Mittsommer-Snack konnte ich bei dem aus Schweden stammenden Mikael Svensson keine klare Linie ausmachen. Eh wohlschmeckend, so ein exzellentes Stück Fisch mit gut abgestimmter Sauce, etwas Fermentiertem und saisonaler Gemüsebeilage, aber eben auch sehr erwartbar. Auch die alkoholfreie Begleitung blieb hinter ihren Möglichkeiten zurück. Lediglich zum Pre-Dessert mit deutlichen Spargelnoten und dem folgenden Rhabarber-Sonnenblumen-Holunder-Hauptdessert passte deren dominate Süße.
Am dritten Abend aß ich im Substans ein verhältnismäßig leichtes Zehn-Gang-Menü. Neben dem mit Heilbutt, Frühlingszwiebelcreme und Kimchi belegten lomper, einem norwegischen Pfannkuchen, blieb mir vor allem das Messerbänkchen in Dackelform in Erinnerung. Anschließend klapperte ich einen weiteren Anders-Husa-Favoriten ab. Zum hohen Entertainmentfaktor des Panu trägt neben einem DJ vor allem der aus Griechenland stammende Betreiber bei. Auch wenn ich gerne das ganze Menü probiert hätte, beließ ich es beim Dessert, einem ziemlich guten frittierten, in Vanillesauce zu tunkenden Kardamomball.
Apropos Kardamom: Natürlich musste ich mich auch durch Oslos Bäckereien probieren. Spannend, wenn auch ein wenig zu sauerteigig war die etwas außerhalb gelegene Daegens Bakery mit ihren lediglich zwei Gebäckvarianten, Zimt und Kardamom. Auf Zuckerschock standen die Zeichen bei Lillebetong. Das Kardamom-Bun kam mit Baiserhaube, das Kokosteilchen mit Vanillepuddingfüllung, leider genau so überzuckert wie die Cookies. Bei Lutlaget überzeugten mich weder Pain au chocolat noch Pistazienschnecke, sondern lediglich der Burnt Basque Cheesecake, wobei ich den ähnlich gut hinkriege.
Eine Nacht verbrachte ich zudem in Bergen, mit exzellentem Third-Wave-Coffee bei Kaffemisjonen und Zimtschnecken- und Braunkäse-Eis bei Hallaisen. Außerdem brauste ich mit dem Schnellboot zu jener Insel, die als Inspiration für den Horrorfilm “The Menu” diente, den ich nicht nur Foodies ans Herz lege. So lustig, so wahr! Anders als im Film wurde ich nach meinem Menü im Cornelius nicht flambiert, sondern in die noch immer helle Nacht entlassen.
Eines meiner Lieblings-Marc-Beckmann-Fotos ist dieses: auf dem Rückweg von der Blaud-Sauna zum Hotel, lediglich mit einem Handtuch bekleidet, weil schlecht vorbereitet, in der Hoffnung, niemandem zu begegnen. Am helllichten Tag!

Liebe ich auch:
Antizyklischen Konsum: Wollpullis sind im Sommer reduziert, dabei kann man sie in Westnorwegen das ganze Jahr über gut gebrauchen.
Die Einhorninstallation im Astrup Fearnley Museum
Das Pistazieneis bei Paradis
Dass das im Kontrast am Nebentisch sitzende schwäbische Ehepaar von Maultaschen schwärmt
Hasse ich:
Dass man James Turrells Sky Space im Ekkebergparken nur nach Voranmeldung betreten darf
Parfümwolken im Restaurant
Dass in norwegischen Saunen Badeanzugpflicht herrscht. Ein Handyverbot hingegen würde ich begrüßen.